Helmi Sigg (Text), Barbara Sigg/zVg (Fotos), 22. Februar 2018
Der Sturm ist gewaltig: Wir sind an der Ostküste von Grönland unterwegs mit dem ehemaligen Heringslogger «Rembrand van Rijn». Wind und Wellen bewegen unseren Kapitän zu einer ausserplanmässigen Landung in der Søkongen Bugt. Nach einem kurzen aber wilden Ritt mit dem Zodiac stehen wir mit noch etwas wackligen Beinen wieder auf festem Grund, froh den Elementen entronnen zu sein. Draussen auf dem Meer wütet der Sturm, im schützenden Fjord klart es schnell auf. Hier stehen wir, eine zusammengewürfelte Gesellschaft aus aller Herren Ländern, begierig auch in der Søkongen Bugt eine arktische Exploration zu erleben.


Flaschenpost ahoi!
Zwei Dutzend Schritte im Landesinnern stossen wir auf einen Stapel wild verstreuter, ausgebleichter Bretter, in der Mitte ein respektabler Kohlehaufen. Frische Polarbärenspuren treiben das Adrenalin gehörig in die Höhe. Gleich neben den Hüttentrümmern dann der grossartige Fund: eine Flaschenpost mit Inhalt. Jackpot!

Die Suche nach einer Übersetzung
Das Gefäss, eine rechteckige HP-Saucenflasche, sowie die beiden vergilbten Notizblätter, bleiben als Erinnerungsstücke an Bord des Schiffes. Mit Fotos der geheimnisvollen Botschaft reise ich zurück in die Schweiz. Primäres Ziel: Herauszufinden, was auf den gelblichen Blättern steht. Ein Teil der Zeilen ist in Dänisch, der Rest in Grönländisch, so viel ist schnell klar. Das dänische Konsulat vermittelt mir Kontakt zu einer Basler Lehrerin, die mir die dänische Passage über Nacht übersetzt. Mit dem Grönländischen kann sie mir leider nicht weiterhelfen.
Facebook hilft weiter
Über ein paar Umwege lerne ich Dr. Johannes Riquet vom englischen Seminar an der Universität Zürich kennen, der in heller Begeisterung den Rest der Zeilen ins Deutsche übersetzt. Als Grönlandfan hat er nicht nur die Sprache erlernt, sondern viele Kontakte zur grössten Insel der Welt aufgebaut.
Die Übersetzungen zeigen, dass die beiden Blätter einen praktisch identischen Inhalt haben:
*Anmerkung: Piittaaraq ist die grönländische Version von Peter, wörtlich «kleiner Peter»
Donnerstag, 7. August 1997, Søkongen-Bucht
Gestern Abend sind wir um 23:00 völlig erschöpft von Ittoqortoormiit hier angekommen: Boas Barselajsen, Evald Barselajsen, Jerimias Arqe, Peter Brandt.
Am 21. Juli sind mir mit dem Boot von Ittoqortormiit nach Ammassalik abgereist. Bis jetzt sind wir 12 Tage im Eis und Nebel festgesteckt. Insgesamt haben wir 58.5 Stunden gerudert. Heute rasten wir und bereiten uns lediglich auf die Weiterreise vor, da die Wellen zu stark sind.
Es geht uns allen sehr gut. Peter Brandt (Piitaaraq*)

Riquet schlägt vor, gleich nach dem Verbleib der vier Unterzeichner zu forschen. Seine guten Verbindungen in Grönland würden sicher helfen. Im besiedelten Teil der Insel seien sehr viele Menschen mit Facebook vernetzt. Für diese «Kalaallit» bedeute Social Media das Tor zur Welt.
Ich gebe es zu: Ich zweifelte am ganzen Unternehmen. Wie lange würde es dauern, den Absender eine Flaschenpost zu finden, die 20 Jahre unterwegs war? Die Antwort: Eine Stunde. Besser noch: Johannes Riquet hatte nicht nur den Absender gefunden, sondern bereits seine Telefonnummer eruiert. Er hatte seine Suche auf dem geschlossenen Portal «Kalaallit Danmarkimiittut» (Dänemark für Grönländer) mit 6500 FB-Usern gestartet. Der schnelle Erfolg überraschte ihn nicht. «Das geht hier ruckzuck», erklärt er mir lachend. «Dieses Land ist moderner als vermutet.»

Erster Kontakt per Skype
Wer also ist dieser Peter Brandt, der vor fast zwanzig Jahren eine Botschaft in einer einsamen Bucht von Ostgrönland hinterlassen hat? Der erste Kontakt findet nicht etwa per Flaschenpost statt, sondern ganz zeitgemäss mit Skype. Der ältere, freundliche Mann am Bildschirm gibt schon bald seine anfängliche Zurückhaltung auf und erzählt munter von seinen Abenteuern. Auf Grönländisch. Die beiden reden, ich verstehe kein Wort, Johannes Riquet beruhigt mich: Brandt würde mir per Post Unterlagen zuschicken mit allen Informationen.
Eine Woche später halte ich ein kleines Dossier über das aufregende Leben von Peter Brandt in den Händen. Er lebt heute in Aasiaat, eine Stadt mit etwa 3000 Einwohnern, im südlichen Bereich der berühmten Diskobucht und wurde 1942 in Kangaatsiaq geboren. Später arbeitete er auf dem Kastrup Lufthavn in Kopenhagen, heuerte auf einem Fischtrawler an und besuchte Anfangs der siebziger Jahre die dänische Journalistenschule in Aarhus. Danach folge eine Anstellung beim grönländischen Rundfunk und ab den 90er Jahren war Brandt freier Journalist. Unter anderem übersetzte er auch Georg Orwells Buch «Animal Farm» (dän. Kamerad Napoleon) in die Sprache der Grönländer.

Die Umrundung Grönlands
Früh in seinem Leben reifte in ihm der Entschluss, Grönland ohne Motor zu umrunden. Stück um Stück nahm er die Küstenabschnitte mit Freunden in Angriff. So auch die Strecke an der Ostküste von Ittoqortoormiit nach Tasiilaq im Jahr 1997. Zu viert waren sie in einem 6,85 Meter langen Ruderboot mit Segelhilfe unterwegs. Die beschwerliche Reise brachte sie auch in die Søkongen Bugt, wo sie in Zelten übernachteten. Bevor sie sich zur Ruhe begaben, deponierten sie die Flaschenpost. Als vorsorgliche Nachricht, sollte ihnen auf der Reise etwas zustossen. Eis, Nebel und Seegang liessen sie das schlimmste befürchten.

Von den vier Freunden lebt nur noch Peter Brandt, die anderen drei, Boas Barselajsen, Evald Barselajsen und Jerimias Arqe, sind inzwischen verstorben. Brandt hat aber nicht aufgegeben. Kaum ist das Eis geschmolzen, packt ihn das Fieber und es zieht ihn wieder in die unberechenbare Natur hinaus. Es ist ihm zu wünschen, dass er seinen Traum zu Lebzeiten noch wahrmachen kann.