Dirk Helbing ist sich sicher: Datenethik und kombinatorische Innovation sind Grundvoraussetzungen für die Wirtschaft der Zukunft. Im Interview erklärt der ETH-Professor für Computational Social Science, warum dieser Wandel zwingend nötig ist – und weshalb Unternehmen stärker denn je Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen müssen.
Text: Christoph Widmer, Bilder: Herbert Zimmermann,
Wir sehen, dass sich alle unsere Institutionen durch die Digitalisierung drastisch verändern und zum Teil wirklich völlig neu erfinden. Zum Beispiel werden heutzutage über 70 Prozent aller Aktien-Trades algorithmisch abgewickelt. Im Zusammenhang mit Blockchain gewinnt das Prinzip «Code is Law» an Bedeutung, wonach der Programmiercode eines Smart Contracts sämtliche Vertragsinformationen enthält und alle Ausführungen oder Transaktionen unveränderlich sind. Die Digitalisierung nimmt also auch Einfluss auf unser Rechtssystem. Und in der Wirtschaft wird das Geld neu erfunden: Es gibt Bitcoin, Ethereum, und man sagt, Daten seien das neue Öl.
Unternehmen entwickeln sich stark Richtung Data Driven Business. Jedes Unternehmen sammelt Daten, wertet sie aus und verwertet sie – entweder, um seine Prozesse zu optimieren, oder um neue Businessmodelle zu entwickeln und aus den Daten schlussendlich Mehrwert zu generieren. Diese Vorgehensweise hat weitreichende Konsequenzen.
Bei der Nutzung von Daten braucht es einen Rahmen, der die Menschenrechte im Blick hat, einen werte-orientierten Ansatz. Die Themen Privacy und informationelle Selbstbestimmung sind in diesem Zusammenhang aktueller denn je. Vor einigen Jahren sagte man, die Privatsphäre sei tot und man solle sich daran gewöhnen. Nun wählt aber zum Beispiel Facebook «The Future is private» als neuen Leitgedanken für sein Business. Daran erkennt man, dass bei der Digitalisierung neue Schwerpunkte gesetzt werden. Datenethik und ethische KI ergänzen heutige Businessfelder. Daraus entstehen für Unternehmen Chancen, sich im Markt entsprechend zu positionieren. Denn heute und auch in Zukunft scheinen vor allem diese Ansätze erfolgversprechend zu sein – gerade in Europa.
Prof. Dr. Dirk Helbing: Professor für Computergestützte Sozialwissenschaften, ETH Zürich
Es gab mal die Idee, man könne nicht nur Unternehmen, sondern die ganze Gesellschaft datengetrieben steuern. So waren die ersten Modelle von Smart Cities sehr stark datengetrieben. Alles wurde aufgezeichnet und viele Prozesse automatisiert. Doch es stellte sich heraus, dass diese Konzepte nicht gut funktionierten – weder als Businessmodell noch politisch. Eine datengetriebene Gesellschaft impliziert letzten Endes Massenüberwachung und Totalitarismus – China und sein Sozialkredit-System sind das beste Beispiel dafür. Ich halte das für keine gute Idee schon gar nicht für Europa mit seinem Verständnis von Demokratie passfähig. Technologien sollten uns dienen, und nicht umgekehrt.
Wir müssen die Menschen, die in einer rein datengetriebenen Gesellschaft als Störgrösse gelten, wieder an Bord holen. Was für uns Menschen wichtig ist, ist mitunter nicht oder nur schwer messbar, wird also nicht angemessen durch Daten repräsentiert: Menschenwürde, Liebe, Freiheit, Kreativität und so weiter. Früher diente die Privatsphäre als geschützter Ort, wo diese Werte gedeihen konnten. Doch nun sammeln Smartphones, Computer, Fernseher oder Küchengeräte auch dort fortlaufend Daten. Wir müssen mit digitalen Upgrades ein Gesellschaftssystem schaffen, das diesen Werten, die fürs Menschsein enorm wichtig sind, Rechnung trägt. Gleichzeitig muss es wirtschaftlich mit anderen Systemen – etwa dem chinesischen – konkurrenzfähig sein. Vielleicht können wir hier von der digitalen Demokratie Taiwan’s einiges lernen.
Für die Wirtschaft empfehle ich das Konzept der kombinatorischen Innovation: Innovationen aus unterschiedlichen Technologiefeldern können immer mehr zu neuen Anwendungen kombiniert werden. Dies erfordert mehr Öffnung und Kooperation zwischen Unternehmen und führt zum Teil zu mehr Open Data, Open Innovation oder Open Source. Denkbar wäre, dass aus Daten gewonnene Erkenntnisse nach einem gewissen Zeitraum anonymisiert der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden – ähnlich, wie es heute bei der Offenlegung von Patenten der Fall ist. Unternehmen könnten auch eine Plattform für informationelle Selbstbestimmung unterstützen. Die Daten der Bürgerinnen und Bürger würden dabei in ein persönliches Datenpostfach geschickt. Sie könnten dann selber entscheiden, welche Unternehmen welche Daten für ihre Zwecke verwenden dürfen. Es ginge also letztlich um einen Vertrauenswettbewerb, bei dem auch KMUs, Spin-Offs, NGOs oder Forschungsinstitutionen die Chance hätten, Zugang zu umfangreichen Daten zu erhalten.
Das stimmt, die heutige Wirtschaft ist vom Prinzip «jeder gegen jeden» geprägt. Wir dürfen aber nicht davon ausgehen, dass die Wirtschaft und Gesellschaft in Zukunft auf gleiche Weise funktioniert wie heute. Unsere heutige Wirtschaft ist nicht nachhaltig. Und mangelnde Nachhaltigkeit bedeutet mangelnde Zukunftsfähigkeit. Unternehmen sind mitverantwortlich dafür, dass die heutigen Herausforderungen der Menschheit – und damit auch das Problem der Ressourcenknappheit – bewältigt werden. Es braucht einen neuen Gesellschaftsvertrag, in dem die Rollen von Staat, Unternehmen und Zivilgesellschaft neu austariert werden. Nur so kann verantwortungsvoll mit Ressourcen umgegangen werden, seien es Rohstoffe oder Daten. Eine Sharing Economy und Kreislaufwirtschaft sind die Schlüssel dazu. Deshalb braucht es Rahmenbedingungen, die dafür sorgen, dass die Digitalisierung uns alle stärkt und niemand ins Hintertreffen gerät. Weder Staat, noch Wirtschaft, noch Zivilgesellschaft.
Wenn die Schweiz mit ihren digitalen Geschäftsmodellen in der Lage sein will, mit Märkten wie China oder dem Silicon Valley zu konkurrieren, dann müssen wir es ein bisschen anders anpacken. Die Schweiz hat mitunter die besten Voraussetzungen, um die kombinatorische Innovation grossflächig voranzutreiben. Hier kennen sich die Leute. Die Schweiz ist flächen- und bevölkerungsmässig überschaubar. Die Idee der kollektiven Intelligenz, die es für Innovations- und Informationsökosysteme braucht, sind mit der Basisdemokratie gewissermassen in den «Schweizer Genen» verankert. Die Bedingungen in der Schweiz sind also ideal, um diesen Wandel zu vollziehen.
Dirk Helbing ist seit 2007 Professor für Computational Social Science am Department Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften sowie beim Department of Computer Science der ETH Zürich. Er studierte Physik und Mathematik und beschäftigt sich heute mit der Modellierung sozialer Systeme und Komplexitätsforschung. Zudem koordiniert er die FuturICT-Initiative, die sich zum Ziel gesetzt hat, globale Probleme mithilfe neuer Ansätze einer digitalen Gesellschaft zu lösen.
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