eHealth in der Arztpraxis
Die Digitalisierung ist in den ambulanten Praxen angekommen, sagt Arzt und Standesvertreter Michael Andor. Und bei den Patienten sowieso! Bezüglich Datenschutz hätten diese meist wenig Bedenken.
Text: Roger Welti, Bilder: Giorgia Müller, 22. Mai 2018
Michael Andor, Sie sind Mitinhaber eines Zentrums für Wirbelsäulenmedizin in Zürich. Wie digitalisiert arbeiten Sie im Alltag?
Wir sind seit unserem Start 2009 digital unterwegs. Das ist bei Neugründungen von Praxen heute der Standard. Die Administration und die medizinische Dokumentation erfolgen bei uns vollumfänglich elektronisch. Die Evaluation der entsprechenden Werkzeuge und der Entscheid für eines davon war aber nicht einfach.
Weshalb?
Wer auf Papier dokumentiert und kommuniziert, kann das ganz nach seinen Vorstellungen tun. Digitale Werkzeuge hingegen lassen weniger Flexibilität zu, sie standardisieren Abläufe und schränken die Gestaltungsmöglichkeiten des Einzelnen ein. Das optimiert das Gesamtsystem, bedingt aber Kompromisse von allen Beteiligten. In einem grossen Team wie dem unsrigen trifft ein digitales Tool die Erwartungen der Einen, während die Übrigen sich andere Features wünschen. Hier gilt es, einen Mittelweg zu finden.
Am Grundsatzentscheid für die digitalisiere Praxis gab es aber nie Zweifel?
Nein. Eine moderne Praxis lässt sich nicht mehr anders führen – erst recht nicht eine Gruppenpraxis. Die Informationen zu unseren Patienten müssen ganz einfach jederzeit für alle Kolleginnen und Kollegen zugänglich sein. So verhindern wir Doppelspurigkeiten und sind schneller und besser in unserer Behandlung. Kommt dazu, dass sich die Digitalisierung administrativer Aufgaben auch rechnet.
Michael Andor in seiner Praxis in Zürich
Weil dadurch Ressourcen für medizinische Tätigkeiten frei werden?
Genau. Die Vergütung administrativer Tätigkeiten in einer Praxis ist über die Jahre merklich zurückgegangen. Wenn unsere Praxisassistentinnen dank elektronischer Tools Zeit gewinnen für medizinische Aufgaben, ist das ein handfester ökonomischer Vorteil.
Hierfür sind aber zuerst Investitionen in die Informatik notwendig. Schrecken viele niedergelassenen Ärzte nicht genau davor zurück?
IT kostet – und zwar immer mehr als offeriert, und auch ihr Unterhalt ist meist teurer als geplant. Kommt dazu, dass die Tarife für ärztliche Leistungen definiert wurden, als die IT und ihre Kosten in den Praxen noch nicht die heutige Bedeutung hatten. Hier besteht definitiv ein gewisser Handlungsbedarf. Und trotzdem: Eine moderne Praxis kann nicht mehr auf der Basis von Papier geführt werden. Das merken Ärzte spätestens dann, wenn sie bei der Abrechnung den Anschluss an die technologische Entwicklung verpassen oder wenn sie ihre Praxis übergeben wollen.
Sind Sie da nicht etwas zu optimistisch? Fax und Rezeptzettel sind in Schweizer Praxen doch noch immer äusserst beliebt.
Natürlich gibt es auch den Typ der analogen Einzelpraxis noch. Da stossen auch wir mit unserer digitalen Arbeitsweise immer wieder an Grenzen. Wenn die Kanäle von und zu anderen Leistungserbringern nur analog funktionieren, ist das häufig ein Hindernis für effizientes Arbeiten und ist nicht selten mit Informationsverlust und Doppelspurigkeiten verbunden. Dem einen oder anderen Hausarzt scheint aber vielleicht seit jeher der griffbereite Rezeptzettel die effizienteste Art der Kommunikation zu sein.
Facharzt für Rheumatologie, physikalische Medizin und Rehabilitation sowie Vorstandsmitglied der Ärztegesellschaft Zürich
Wie ist die Erwartungshaltung Ihrer Patienten? Fordern diese mehr eHealth in Schweizer Arztpraxen?
Junge Patienten erreicht man gar nicht mehr analog. Und auch bei älteren Generationen ist die Durchdringung des Smartphones sehr hoch. Unsere Patienten sind es sich – wie in anderen Lebensbereichen auch – gewohnt, über E-Mail und unter Einsatz der Handy-Kamera zu kommunizieren. Das ist nicht nur bequem, sondern auch kosteneffizient.
Geben Sie uns ein konkretes Beispiel?
Eine Patientin schickt mir vom Handy ein Foto seines geschwollenen Fusses. Ich kann dessen Zustand möglicherweise bereits dank des Bildes als nicht alarmierend beurteilen und die Patientin per E-Mail beruhigen. Und schon haben wir die Kosten für eine unnötige Notfallbehandlung gespart.
Wie gross sind bei den Patienten die Bedenken hinsichtlich Datenschutz?
Meine persönliche Erfahrung ist die, dass es erschreckend wenig Bedenken gibt. Es scheint eine Art Bewusstseinswandel stattzufinden – nach dem Motto: «Es sind so oder so viele Daten über mich im Umlauf. Dann sollen sie mir auch etwas nützen». Auf unsere Arbeit bezogen heisst das, dass die Patienten einfach froh sind, wenn alle relevanten Daten bei uns vorhanden sind, und wir sie dadurch optimal behandeln können. Das heisst aber nicht, dass die Leistungserbringer und Versicherer den Datenschutz nicht sehr ernst nehmen sollten.
Michael Andor betreut in der Ärztegesellschaft Zürich das Dossier eHealth
A propos «relevante Daten»: Die sollen künftig im elektronischen Patientendossier (EPD) zu finden sein. Wie stehen Sie, und wie steht die Ärztegesellschaft Zürich (AGZ) zum EPD?
Wir setzen uns generell und auch beim Thema eHealth für Lösungen ein, die für alle zugänglich, alltagstauglich und bezahlbar sind. Der Datenschutz muss gewährleistet sein. Diese Anforderungen muss auch das EPD erfüllen.
Das EPD ist für niedergelassene Ärzte freiwillig. Schmälert das die Erfolgschancen des Dossiers nicht entscheidend?
Die doppelte Freiwilligkeit wird meiner Ansicht nach kein Hemmschuh sein, wenn das EPD alltagstauglich und finanzierbar ist. Es muss möglichst einfach aus der elektronischen Krankengeschichte der Praxis heraus bedient werden können. Und die dadurch entstehenden Aufwände müssen abgegolten werden. Die per Anfang 2018 erfolgte Einschränkung der Vergütung von Aufwänden «in Abwesenheit des Patienten» geht daher klar in die falsche Richtung.
Warum?
In Zukunft wird mit der Digitalisierung generell mehr Arbeit in Abwesenheit der Patienten notwendig werden – also ohne, dass der Patient in der Praxis erscheinen muss. Insgesamt wird eine Behandlung so billiger. Auch der aktuelle Tarifeingriff von Bundesrat Berset berücksichtigt die Digitalisierung in der Arztpraxis und der Kommunikation mit den Patienten noch nicht. In meinen Augen ist nicht die doppelte Freiwilligkeit, sondern die korrekte Abgeltung des Aufwandes für den Erfolg des EPD entscheidend – werden die Daten nämlich nicht sorgfältig eingepflegt, wird deren Qualität im Alltag nicht genügen.
Michael Andor ist Facharzt für Rheumatologie sowie für physikalische Medizin und Rehabilitation. Im 2009 gegründeten Zentrum für Wirbelsäulenmedizin Prodorso bietet er gemeinsam mit rund 20 Kolleginnen und Kollegen eine umfassende integrative Gesundheitsversorgung für Rücken- und Nackenprobleme an. Andor ist darüber hinaus Vorstandsmitglied der Ärztegesellschaft Zürich, die rund 5‘700 diplomierten Ärztinnen und Ärzten im Kanton Zürich vertritt. Im Vorstand betreut er das Dossier eHealth.
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