Digitalisierung des Schweizer Gesundheitswesens

eHealth, quo vadis?


In diversen Kantonen laufen die Vorbereitungen zur Einführung des elektronischen Patientendossiers (EPD). Leistungserbringer arbeiten an internen Digitalisierungsprojekten. Gesundheits-Apps finden sich fast auf jedem Smartphone. Doch wo steht die Schweiz wirklich mit eHealth? Eine Spurensuche bei Bund und Branche.


Text: Roger Welti, Bilder: Luis Melendez Unsplash, 23. August 2018




Die Einschätzung der Industrieländerorganisation OECD ist wenig schmeichelhaft: Die Schweiz liegt hinsichtlich der digitalen Nutzung von Gesundheitsinformationen hinter Staaten wie Polen, Spanien und Estland zurück. In 18 von insgesamt 30 untersuchten Ländern der OECD erfassten bereits 2016 mindestens 70 Prozent der Grundversorger und Akutspitäler Diagnosen und Therapieinformationen in elektronischen Gesundheitsakten. In der Schweiz dürfte dieser Wert trotz Einführung des EPD noch einige Zeit nicht erreicht werden. Steht es wirklich so schlecht um modernes, digitales Arbeiten in Schweizer Praxen, Spitälern und Heimen? Wir haben bei Bund und Branche nachgefragt.


Der Bund hat eine Strategie – zumindest fürs EPD

Adrian Schmid ist Leiter von eHealth Suisse, der Kompetenz- und Koordinationsstelle von Bund und Kantonen, wenn es um elektronische Gesundheitsdienste geht. Auf die Frage, ob die Schweiz denn überhaupt einen Plan habe, wie sie ihr Gesundheitswesen digitalisieren will, verweist er auf die im Frühling 2018 vom Bund verabschiedete «Strategie eHealth Schweiz 2.0». Diese umfasst drei Handlungsfelder mit nicht weniger als 27 Zielen. «Wir wollen digitale Anwendungen fördern, die Digitalisierung koordinieren und die Bürger befähigen, verantwortungs- und risikobewusst mit digitalen Gesundheitsdaten umzugehen», sagt Schmid. Hierzu gibt ihnen der Bund ein Werkzeug in die Hand – ihr persönliches EPD. Dessen Verbreitung ist auch das vornehmliche Ziel der erwähnten Strategie, die vorerst bis ins Jahr 2022 Wirkung entfalten soll. «Es handelt sich bewusst nicht um eine umfassende Strategie zur Begleitung der digitalen Transformation des Gesundheitssystems», präzisiert Schmid.


Der Branchenverband fordert einen übergreifenden Ansatz

Genau das wünscht sich aber Urs Stromer. Der Präsident der Interessengemeinschaft eHealth findet, dass das Papier aus dem Bundesamt für Gesundheit (BAG), seinem Namen «eHealth Strategie 2.0» nicht gerecht wird und mit seinem Fokus nur aufs EPD viel zu kurz greift. «Die Digitalisierung des Gesundheitswesens findet nicht im EPD oder im Krankenversicherungsgesetz statt. Um das Thema anzugehen, braucht es eine departementsübergreifende Diskussion und Strategie, die auch die Bereiche Bildung und Finanzen mit einbezieht», fordert Stromer. Eine fundierte Ist-Soll-Analyse müsse her, und es brauche den gemeinsamen Diskurs von Bund, Fachleuten von Gesundheitseinrichtungen und Technologielieferanten.

Gemeinsam und konstruktiv am Thema Digitalisierung zu arbeiten, scheint für alle Akteure im Gesundheitswesen aber eine grosse Herausforderung zu sein. Urs Stromer sieht den Grund hierfür nicht zuletzt in der Silofinanzierung unseres Gesundheitssystems. Spitäler, Haus- und Fachärzte, Spitex und Heime optimieren und digitalisieren zwar in ihren jeweiligen Silos. Eine Gesamtsicht fehlt aber. «Dabei müssten alle am Behandlungspfad beteiligten Akteure doch gemeinsam eine Optimierung dieses übergreifenden Pfades anstreben. Das geschieht aber nicht, weil die Akteure hierzu keinen Anreiz haben», sagt Stromer. Stattdessen würden viele Hausärzte in der Schweiz noch immer auf Papier dokumentieren, weil sie keine Notwendigkeit zur Digitalisierung sehen und ihre Praxis immer noch als autark funktionierendes Gebilde sähen. Stromer schmunzelt: «Die Praxisassistentinnen sehen das bedeutend realistischer. Sie sind es ja, die den ganzen Tag über mit anderen Leistungserbringern und Patienten Informationen austauschen müssen.»



Facharzt für Rheumatologie, physikalische Medizin und Rehabilitation sowie Vorstandsmitglied der Ärztegesellschaft Zürich

Urs Stromer fordert weniger Silodenken



Die EPD-Umsetzung ungebremst vorantreiben

Den Überblick zur Umsetzung von eHealth oder zumindest des EPD behält eHealth Suisse. Regelmässig publiziert die Koordinationsstelle eine Übersicht zu den kantonalen Aktivitäten. Adrian Schmid hält fest: «Es zeigt sich, dass in Kantonen, in denen sich die öffentliche Hand aktiv an der Auseinandersetzung mit den Themen eHealth im Allgemeinen und dem EPD im Speziellen beteiligt, der Aufbau der Stammgemeinschaften und die Implementation des EPD weiter fortgeschritten sind.»

Viel Zeit bleibt insbesondere den Spitälern im Land allerdings nicht mehr. 2020 müssen sie an eine EPD-Gemeinschaft angeschlossen sein. Das Bewusstsein für die dazu notwendigen Vorarbeiten scheint nicht überall gleich gross zu sein. «Wir stellen fest, dass teilweise der Aufwand für die Anbindung der Primärsysteme an eine Stammgemeinschaft unterschätzt wird», sagt denn auch Adrian Schmid. Er ruft alle Akteure daher dazu auf, ihre Arbeiten rund ums EPD ungebremst voranzutreiben.

Diesen Ball spielt Urs Stromer – zumindest teilweise – zurück zum Bund. «Das EPD und eHealth generell werden nicht an der Technologie scheitern», sagt er. Aber auch das BAG habe die Komplexität der Spezifikationsarbeit unterschätzt und kann verbindliche Vorgaben voraussichtlich erst Mitte 2019 in den Verordnungen vorschreiben. Immerhin: Im Gegensatz zum ersten Wurf soll hier nun Qualität vor Quantität zählen.


Lange Zeit kaum Druck zur Effizienz

Mehr Tempo als beim EPD nehmen Spitäler und teilweise auch niedergelassen Ärzte bei der Digitalisierung von Alltagsabläufen auf. Effiziente Praxissoftware und so genannte B2B-Services wie die elektronische Zuweisung oder der digitale Berichtversand finden zunehmend Verbreitung. Der Bund begrüsst derartige Services. Adrian Schmid von eHealth Suisse betont aber: «Bei der Umsetzung ist darauf zu achten, dass diese Anwendungen schweizweit funktionieren und keine digitalen Grenzen zwischen den Regionen entstehen, sondern die Vernetzung und Interoperabilität gewährleistet sind.»

Auf die Frage, warum das Gesundheitswesen denn nicht schon vor Jahren Prozesse digitalisiert und damit effizienter gemacht hat, gibt Urs Stromer eine simple Antwort: «Die Spitäler mussten bis vor ein paar Jahren gar nicht prozessoptimiert arbeiten.» Ein Umdenken habe erst mit der 2012 erfolgten Einführung der Fallpauschalen eingesetzt. «Seither investieren die Verantwortlichen in die Effizienzsteigerung innerhalb ihres Finanzierungsregimes. So praktizieren sie etwa ein aktives Zuweiser-Management, um ihr Haus auszulasten, und nutzen dabei zunehmend auch digitale Tools», sagt Stromer.



Facharzt für Rheumatologie, physikalische Medizin und Rehabilitation sowie Vorstandsmitglied der Ärztegesellschaft Zürich

Adrian Schmid begrüsst so genannte B2B-Services



Politischer Druck und Geduld

Auf Initiativen der Leistungserbringer alleine will sich die Interessengemeinschaft eHealth aber nicht verlassen. Sie setzt grosse Hoffnungen in eine Reihe von politischen Vorstössen im Bundesparlament. Diese behandeln etwa die Pflicht zur elektronischen und strukturierten Dokumentation durch Ärzte oder das Recht der Patienten auf einen Medikationsplan. Weitere parlamentarische Vorstösse zum Thema eHealth sind in Planung.

«Es braucht in diesem regulierten System verpflichtende Anstösse von Seiten des Parlaments, damit eHealth in der Schweiz noch mehr Fahrt aufnimmt», ist Urs Stromer überzeugt. Die Debatten im Parlament werden zeigen, ob die Politik den nötigen Druck aufsetzen wird.




Kampf für mehr Digitalisierung im Gesundheitswesen

Die Interessengemeinschaft eHealth will die Umsetzung von eHealth in der Schweiz beschleunigen, damit Qualitäts- und Sicherheitslücken in der Behandlung verhindert und administrative Prozesse verbessert werden. In einem Booklet zur digitalen Transformation im Gesundheitswesen zeigt sie Ansätze auf für Qualitätsverbesserungen und Kostendämpfungen.

www.ig-ehealth.ch

 



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