Digitalisierung im Schweizer Gesundheitswesen

FMH-Präsidentin Yvonne Gilli sagt im Interview, warum und wo Aufholbedarf besteht.

Yvonne Gilli ist frischgewählte Präsidentin der FMH, Verwaltungsratspräsidentin von AD Suisse sowie praktizierende Ärztin mit einem ausgeprägten Faible für die Digitalisierung. Im Interview sagt sie, warum und wo das Schweizer Gesundheitswesen Aufholbedarf in Sachen Digitalisierung hat.

Frau Gilli, Sie wurden Ende Oktober digital zur neuen Präsidentin der FMH gewählt. Herzliche Gratulation. Bevor Sie Präsidentin der FMH wurden, betreuten Sie im Verband das Dossier Digitalisierung. Gleichzeitig sind Sie Ärztin und führen eine Arztpraxis. Wie digital sind Sie in Ihrer Praxis unterwegs?

 

Yvonne Gilli: Wir sind sehr digital unterwegs. Wie die meisten jüngeren Ärzte führen auch wir die Korrespondenzen und Dokumentationen digital. Wir rechnen digital ab und erfassen auch die Krankengeschichten auf diesem Weg.

Sie sprechen es an: Die aktuelle Publikation des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums zeigt auf, dass die Schweizer Hausärzteschaft Nachholbedarf in Sachen Digitalisierung hat. Das betrifft gemäss den dort zitierten Studien vor allem die ältere Generation. Woher kommt diese Unlust zur Digitalisierung?

 

Yvonne Gilli: Von einer Unlust würde ich nicht sprechen. Es ist vielmehr ein verzerrtes Bild, das in der Öffentlichkeit vorherrscht. Diese Verzerrung ist nicht Schweiz spezifisch, auch andere Länder kämpfen mit den gleichen Problemen. Es liegt nicht an einer Unlust der Ärzte oder der mangelnden Affinität für die Digitalisierung. Es liegt am Nutzen, den sie aus der Digitalisierung ziehen. Sie müssen darin Vorteile für ihre Arbeit sehen und erleben. Doch der Nutzen ist nicht immer gegeben.

Gemäss einer Studie des Beratungsunternehmens KPMG aus dem Jahr 2017 könnten mit der Digitalisierung 300 Mio. Franken pro Jahr im Gesundheitswesen gespart werden.

 

Yvonne Gilli: Das widerspricht internationalen Studien. Allein die kontinuierliche Entwicklung und der Unterhalt der Infrastruktur verschlingen viel Geld. Doch es gibt verschiedene Bereiche, in denen man durchaus sparen und die Behandlungsqualität erhöhen kann, zum Beispiel im Bereich der eMedikation. Deshalb nutze ich ja selbst die digitalen Möglichkeiten. Aber pauschal kann man das nicht so sagen.

 

Oft wird auch ins Feld geführt, dass Vorbehalte gegenüber Datenschutz und Datensicherheit die Ärzte skeptisch gegenüber der Digitalisierung stimmen. Woher dieses Misstrauen?

 

Yvonne Gilli: Ich würde das nicht als Misstrauen bezeichnen, sondern als grosse Sensibilität und Verantwortlichkeit gegenüber Gesundheitsdaten. Informationen über vererbbare Veränderungen im Zusammenhang mit Krebsdiagnosen betreffen nicht nur den erkrankten Menschen, sondern auch seine Verwandten und seine Nachkommen. Diese Daten haben lebenslange Gültigkeit und können natürlich bei der Berechnung von Gesundheitsrisiken für verschiedenste Versicherer interessant sein. Deshalb sind diese Daten sehr sensibel und müssen geschützt werden. Es gibt auch häufig Hackerangriffe auf Spitäler. Es hängen also Menschenleben davon ab, dass diese Daten sicher sind.

Dennoch: Die Corona-Pandemie hat einen Digitalisierungsschub verursacht. Wie zeigt sich das in der täglichen Arbeit eines Hausarztes?

 

Yvonne Gilli: Es gibt zum Beispiel mehr Videokonsultationen. Diese Art der Konsultation hilft natürlich, Infektionsketten zu unterbrechen. Es gibt aber auch Tools, die gewisse Untersuchungen zulassen. Und: In der Pandemie hat auch zum ersten Mal eine Sitzung der Ärztekammer digital stattgefunden. Manchmal muss man genötigt werden, um Veränderungen anzugehen. (lacht) Der Mensch entscheidet halt oft auf Basis von seiner Erfahrung und in der Digitalisierung fehlt diese teilweise noch.

Wird das elektronische Patientendossiers Ihrer Meinung nach einen weiteren Digitalisierungsschub bringen?

 

Yvonne Gilli: Das EPD darf man nicht überbewerten. Mit diesem Projekt wird das Pferd am Schwanz aufgezäumt. Von Estland, das ja sehr weit in der Digitalisierung des Gesundheitswesens ist, weiss man beispielsweise, dass dieses Land die Digitalisierung nicht mit dem komplexen Gesundheitswesen begonnen hat, sondern mit einfachen administrativen Erleichterungen für seine Bürger. In der Schweiz hat noch nicht einmal jede Bewohnerin eine elektronische Identität.

Was meinen Sie damit konkret?

 

Yvonne Gilli: Wir brauchen vom Staat eigentlich nur die Rahmenbedingungen zur Digitalisierung. Sprich: Die Möglichkeit für eine sichere e-ID und eine sichere e-Authentifizierung sowie die Voraussetzungen für die Interoperabilität etc. Aber wir brauchen kein bis ins kleinste Detail ausgearbeitetes Produkt des Bundes, wie es das elektronische Patientendossier darstellt. Das EPD wird erst einen wirklichen Nutzen bringen, wenn es auch für die Gesundheitsfachpersonen einen Mehrwert generiert. Stimmen die Rahmenbedingungen, dann wird der Markt spielen. Aber man muss auch sagen: Kritik ist immer einfach angebracht. Die Digitalisierung im Gesundheitswesen ist komplex.

Sie sind VR-Präsidentin von AD Suisse, die als Gemeinschaft ambulanten Leistungserbringern einen Anschluss an das EPD bietet. Sind Sie trotz Ihrer Kritik für eine Anbindungspflicht der Hausärzte ans EPD?

 

Yvonne Gilli: Diese Pflicht gibt es faktisch schon. Mit der Revision des Krankenversicherungsgesetzes zur Zulassungssteuerung hat das Parlament alle Ärzte, die eine Zulassung neu beantragen, verpflichtet, sich am EPD anzuschliessen.

Sie haben nun eine Doppelrolle. Sie sind auch Präsidentin der FMH. Was sagen Sie in dieser Funktion zu dieser Pflicht?

 

Yvonne Gilli: Wir vertreten die Grundhaltung, dass eine Pflicht für ambulante Leistungserbringer nicht notwendig ist. Wie schon angetönt: Ärzte sind Apriori affin für Technologien. Das liegt in der Natur des Medizinstudiums, das stark naturwissenschaftlich geprägt ist. Ein gutes Produkt, das einen Mehrwert bietet, wird von den Ärzten auch genutzt.

Was braucht es Ihrer Meinung nach, um die Digitalisierung voranzutreiben?

 

Yvonne Gilli: Neben den genannten Rahmenbedingungen, die der Bund schaffen muss, bin ich überzeugt, dass man in der Ausbildung ansetzen muss. Auch das ist eine öffentliche Aufgabe. Es braucht eine Ausbildung auf Universitätsstufe die Medizin und Informatik verbindet. Denn mit der Digitalisierung im Gesundheitswesen ist es wie mit der Kultur: Wenn ich französisch sprechen kann, dann kann ich noch lange kein Buch eines französischen Autors übersetzen -dafür muss ich auch die Kultur der Sprache und des Landes kennen und verstehen.

"Ärzte sind sehr affin für Technologien"

Yvonne Gilli, Präsidentin FMH


Yvonne Gilli ist die erste Frau an der Spitze der FMH. Sie ist Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin und führt eine eigene Praxis in Wil. Sie war vor ihrer Wahl zur Präsidentin der FMH im Vorstand zuständig für das Dossier Digitalisierung. Zudem war Gilli von 2007 bis 2015 Nationalrätin der Grünen Partei.





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