Gegenwart und Zukunft der Cloud

«Ich glaube nicht, dass ein Unternehmen die Cloud heute noch ignorieren kann.»


Für den Chefarchitekten von Amazon Web Services ist klar: Cloud-Technologien stehen erst am Anfang, sind für Unternehmen unverzichtbar und essentielle Voraussetzung für IoT und künstliche Intelligenz.


Text: Urs Binder, Bilder: Raisa Durandi, 19. Februar 2018




Glenn Gore ist Chief Solutions Architect von Amazon Web Services – ein regelrechter Shooting Star der Cloud. Der Australier beschäftigt sich seit den 1990er-Jahren mit Internet-Technologien. Seine steile Karriere begann beim ersten Retail-ISP von Australien, später war er in verschiedenen Funktionen bei einem Backbone-Provider, einem Hosting-Anbieter und seit 2013 bei AWS tätig. Heute unterstützt er Kunden auf der Reise in die Cloud und hilft ihnen, die optimale Lösung zu finden. Im Umfeld des Worldwebforum 2018 konnten wir uns mit ihm über den Status und die zukünftige Entwicklung des Cloud-Computing unterhalten.


Glenn, kann ein Unternehmen die Cloud überhaupt noch ignorieren?


Ich glaube nicht, dass irgendeine Organisation der Cloud heute noch die kalte Schulter zeigen kann. Unternehmen müssen das Thema verfolgen und eine Strategie für die Cloud-Transformation entwickeln. Es ist auf jeden Fall eine Reise. Eine Reise, die damit beginnt, dass zunächst einzelne Applikationen in der Cloud laufen. Gleichzeitig müssen die Skills und Prozesse entwickelt werden, um diese Transitionen überhaupt zu ermöglichen. Je nach Komplexität kann das ein kurzer Trip oder eine grosse, mehrjährige Reise werden.


Was heisst «Cloud» in diesem Kontext?


Es umfasst alles, von IaaS über PaaS bis SaaS. Pikanterweise sagen manche Unternehmen, sie hätten mit der Cloud nichts am Hut. Und dann reden sie von Software wie Salesforce… Es gibt eine Menge Missverständnisse, was die Cloud ist und ob eine Organisation sie nutzt oder nicht.


Zu Beginn stand die «Private Cloud» hoch im Kurs. Nun spricht man vor allem von «Hybrid Cloud» - eine Entwicklung, die Sie auch sehen?


«Private Cloud» war immer eine völlig unzutreffende Bezeichnung. Denn die eigentlichen Vorteile der Cloud, die Elastizität und das Preismodell «Pay-as-you-go», gibt es nur mit Public Cloud Services, bei Bedarf ergänzt durch die eigene IT in einem Hybridmodell. Mit einer Private Cloud bezahlt man immer die vollständige Infrastruktur, egal ob man sie ausnutzt oder nicht. Natürlich haben Anbieter der alten Garde komplette Infrastrukturpakete als «Cloud» verkauft – 2018 ist das aber praktisch verschwunden.



Glenn Gore, Chief Solutions Architect von Amazon Web Services

Glenn Gore, Chief Solutions Architect von Amazon Web Services



Für ein Start-up ist es einfach, von der grünen Wiese aus direkt in die Cloud zu gehen. Wie soll ein gestandenes Unternehmen mit bestehender IT vorgehen?


Der beste Weg: Einfach beginnen. Viele Unternehmen fahren sich in Machbarkeitsstudien und Planungen fest, und nichts geschieht. Nehmen Sie eine Anwendung, ein kleines Team, und machen Sie ein Experiment. Man muss nicht alles auf einmal in die Cloud transformieren – und wenn man auch nur ein einziges Ding bewegt, lernt man schon eine Menge.


In den Anfangszeiten ging es darum, Rechen- und Speicherleistung in die Cloud zu verlagern. Heute werden IT-Systeme von Anfang an für die Cloud gebaut. Genügen die verfügbaren Tools, um dem gerecht zu werden?


Ja, es gibt ein ganzes Ökosystem von Entwicklungswerkzeugen, Diensten, Partnern und Softwareanbietern, die sich kombinieren lassen. Dazu gehören Open-Source-Tools wie Puppet, Chef und Jenkins, aber auch Partnerschaften mit kommerziellen Anbietern wie Atlassian, bis hin zu Diensten etwa von Cisco und F5, mit denen Unternehmen die Security in der Cloud managen können.


Und die Entwickler – sind die im Schnitt schon Cloud-ready?


Die Rolle der Softwareentwickler ist momentan im Umbruch. Entwickler und Entwicklungsteams müssen «cloud native» werden, also verstehen, was schnellere Release-Zyklen, Microservice-basierte Architekturen und DevOps bedeuten – auch für die Organisation und Unternehmenskultur.


Starke Veränderungen im Berufsbild, ständiger Wandel – ist Softwareentwicklung eine attraktive Tätigkeit?


Ich finde, es gab nie eine bessere Zeit, ein Entwickler zu sein als heute. Mit Cloud-Services bekommen die Entwickler nämlich Superkräfte. Sie können Lösungen bauen, die in der Vergangenheit schlicht nicht möglich waren.


Was heisst das für die Bedeutung der IT insgesamt?


Vor nicht allzu langer Zeit war es üblich, dass die IT in der Organisation eher unten angesiedelt war – der CIO rapportiert an den CFO, die IT wird ausgelagert und bloss als Kostenfaktor gesehen. Jetzt erkennen Unternehmen, dass Technologie einen fundamentalen Beitrag an den Geschäftserfolg leisten und Wettbewerbsvorteile liefern kann. Die IT schwimmt zunehmend wieder ganz oben: Der CIO ist direkt dem CEO unterstellt, die Entwicklungsteams sind Teil der strategischen Zukunft.


Erleben wir heute schon den technologischen Höhepunkt der Cloud oder stehen wir erst am Anfang?


Es ist praktisch erst Tag 1 dessen, was Kunden mit der Cloud anfangen können. Es kommen ständig neue Technologien und Services hinzu. Man sieht es auch am Angebot von AWS. Lanciert haben wir Amazon Web Services 2006. Seither steigt die Innovationsrate Jahr für Jahr.



Glenn Gore, im Gespräch


Nutzen die Kunden die Neuerungen auch wirklich?


Wenn ich mit Kunden spreche, wollen Sie mit Cloud Services immer mehr und unterschiedlichere IT-Probleme bewältigen. Sie möchten, dass wir Probleme vereinfachen, die sonst schwierig zu lösen wären. Cloud Computing umfasst heute vieles, was noch vor ein paar Jahren undenkbar war – zum Beispiel künstliche Intelligenz, Machine Learning, Sprach-, Bild- und Videoverarbeitung.


Welche Bedeutung haben Forschung und Innovation für einen Cloud-Anbieter?


Bei uns passiert viel Forschung und Innovation, über die gesamte Produktpalette hinweg. Ein Beispiel sind elastische GPUs: Früher musste man eine GPU 1:1 an einen bestimmen Server binden, heute kann GPU-Leistung nach Bedarf virtuell zugeteilt und entfernt werden. Oder feldprogrammierbare Gate-Arrays (FPGA) in der Computing-Cloud, mit denen «Hardware Microservices» möglich werden – das ist höchst innovativ.


Wie trifft man Technologieentscheidungen?


Auf Basis von Daten. Wir messen leidenschaftlich alles, was überhaupt messbar ist – wir sind stark getrieben durch Operations Metrics. Mit diesen Daten im Hintergrund diskutieren und debattieren wir und können fundiert entscheiden, was wir tun sollen. Wichtig ist auch das Feedback von Kunden, das wir etwa über Customer Advisory Boards einholen.


Wie sieht die Cloud in 5 Jahren aus?


Das ist schwer zu sagen. Generell wird die Servicepalette immer breiter. Wir werden die Kunden vermehrt unterstützen, ihre Legacy-Technologien in die Cloud zu transformieren. Und auch der Leistungsumfang wird zunehmen, bei AWS zum Beispiel durch zusätzliche Regionen rund um den Globus. 


AWS bietet über 100 Dienste an. Ist es nicht schwierig, so viele Cloud Services im Griff zu halten?


Es ist heute ganz klar eine grössere Herausforderung als 2013, als ich bei AWS einstieg. Auf der anderen Seite leistet die Plattform auch sehr viel mehr. Die Auswahl an Technologien wird breiter, die Services gehen tiefer. Die Anforderungen an die Mitarbeitenden verändern sich: Entwickler verwandeln sich in Machine-Learning-Ingenieure, ganz neue Disziplinen wie Chaos Engineering werden geboren – neue Skills und Karrierepfade entstehen. Und das ist gut so. Man stelle sich vor, es gäbe stattdessen weniger Auswahl…



Glenn Gore, Chief Solutions Architect von Amazon Web Services


Und die Kunden, werden die durch das enorm breite Angebot nicht verwirrt?


Meiner Meinung nach nein. Die Plattform ist so vielfältig, weil die Kunden es wünschen. Ein KMU einer bestimmten Branche wird kaum alle Services nutzen – es wählt genau die Kombination, die es braucht. Ausserdem gibt es mehr als einen Weg, ein Problem zu lösen. Kunden können frei entscheiden, was sie in der aktuellen Situation benötigen und die Technologiewahl später neuen Bedürfnissen anpassen.


Machine Learning, AI und IoT sind die heissesten Themen der IT. Welcher Zusammenhang besteht mit der Cloud?


Mit IoT vernetzen wir Milliarden von Geräten. Jedes liefert Messdaten, und sie können interagieren. Dabei fallen noch mehr Daten an. Die Cloud ist das natürliche Habitat, um diese Daten zu speichern und zu verarbeiten. Und schon folgt eine weitere Herausforderung: Die Datenmenge wird extrem umfangreich, wir sprechen von Petabytes. Es wird immer schwieriger zu sehen, was passiert. Jetzt kommt Machine Learning ins Spiel, um Muster und Prozesse zu erkennen. Cloud, Machine Learning und IoT sind eng miteinander verbunden. Das eine kann man nicht ohne das andere haben.


Das ist für Cloud-Anbieter sicher ein gefundenes Fressen…


Natürlich. Aber auch für Unternehmen, die sich selbst neu erfinden und neue Umsätze erzielen möchten. Man muss nur all die Startups betrachten, die Dinge tun, die vor 10 Jahren buchstäblich noch Science-Fiction waren.


AWS ist der weltgrösste Anbieter von Cloud-Services und bedient viele missionskritische Anwendungen. Wie gehen Sie mit dieser Systemrelevanz um?


Erstens ist die Sicherheit der AWS-Plattform unsere höchste Priorität. Zweitens verstehen wir uns sehr gut auf Skalierbarkeit und Verfügbarkeit. Die zugrundeliegende Architektur ist ganz auf Strapazierfähigkeit ausgelegt. Wir haben das Konzept von Regionen und voneinander unabhängigen Verfügbarkeitszonen. Wenn eine ausfällt, stehen die anderen weiterhin zur Verfügung. Die Kunden haben Wahlfreiheit, in welchen Regionen und Zonen ihre Anwendungen laufen. Generell empfehlen wir eine Aktiv-Aktiv-Konfiguration über zwei oder mehr Verfügbarkeitszonen.


Was hat die Zusammenarbeit mit lokalen Providern wie Swisscom für eine Bedeutung?


Unsere Kunden mögen lokale Gesichter. Und sie haben bereits Beziehungen zu lokalen Partnern. Das Gute an Partnern wie Swisscom: Sie können alles abdecken. Von der Unterstützung der bestehenden IT bis zur Cloud-Transformation. Dazu kommt die Erfahrung aus zahlreichen Transitionsprojekten. Sie kommt den Kunden zugute, für die die Cloud-Welt noch neu ist.



Glenn Gore, Chief Solutions Architect von Amazon Web Services


Was haben Sie persönlich für einen Einfluss auf das Cloud-Business?


Das oberste Führungsprinzip von Amazon heisst «Customer Obsession». Alles fängt mit dem Kunden an. Unser Innovationsprozess arbeitet nach dem Prinzip «working backwards», also ausgehend vom Problem des Kunden eine Lösung zu erarbeiten: Die Ausgangsbasis ist immer das Bedürfnis des Kunden. Ich selbst und meine Teams gehen zu den Kunden, nehmen Feedback und Anregungen für Innovationen mit und geben diese Erkenntnisse ans Engineering weiter.


Funktioniert das zufriedenstellend?


Die Engineering-Teams lieben den Input der Kunden. Es ist eine grossartige Arbeitsbeziehung. Bei anderen Anbietern lebt das Engineering oft ziemlich isoliert und ist weit weg von den Kunden, für die es eigentlich arbeitet.


Was fasziniert Sie an Ihrem Job?


Am glücklichsten bin ich, wenn ich mit Kunden arbeite, die ein sehr schwieriges Problem zu lösen haben. Man sieht zunächst ihre Frustration. Sie wollen etwas aufbauen, ihr Business transformieren, ihre Kunden begeistern und kommen nicht weiter. Die Kunden auf dem Weg zur Lösung zu begleiten, das Unmögliche möglich zu machen – das ist es, was mich antreibt und wieso ich am Morgen gerne aufstehe.


Vom Morgen zur Nacht: Gibt es etwas rund um AWS, das Sie schweissgebadet aufwachen lässt?


Nein, nichts was AWS betrifft. Ich wache jeden Morgen glücklich und energiegeladen auf. Genauer gesagt schlafe ich gar nicht so viel, weil mein Gehirn ständig in Gang ist und schon daran denkt, was ich am nächsten Tag alles tun will.








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