Digitalisierung des Gesundheitswesens

Die richtigen Daten zur richtigen Zeit am richtigen Ort

Der Gesundheitsökonom Alfred Angerer beschäftigt sich mit der Digitalisierung des Gesundheitswesens. Im Interview sagt er, wie ein digitalisiertes Gesundheitswesen aussieht, was der Schweiz noch fehlt und welche Vorteile die Digitalisierung bringt.

Text: Michèle Vaterlaus, Bilder: zVg,

Herr Angerer, der Digital Health Report vom Herbst 2021 hat gezeigt, dass sich die Schweiz im internationalen Mittelfeld der Digitalisierung im Gesundheitswesen bewegt. Was zeichnet ein digitalisiertes Gesundheitswesen aus?

Alfred Angerer: Naja, internationales Mittelfeld ist noch freundlich ausgedrückt. Das Schweizer Gesundheitswesen steht in punkto Digitalisierung nicht gut da. Sie fragen, wie ein digitalisiertes Gesundheitswesen aussieht? Drei Punkte sind entscheidend.

Welche drei sind das?

Alfred Angerer: Erstens müssen die Patienten befähigt sein. Das heisst, sie sind informiert und können sich quasi selbst behandeln, beispielsweise mit Unterstützung von Apps. Es ist nicht mehr notwendig, dass man jedes Mal mit Kopfschmerzen zum Arzt geht. Zweitens geht es um die Kommunikation der Akteure und um den Fluss dieser Kommunikation. Viele wissen nicht, wie es ist, wenn man chronisch krank ist. Das ist eine Reise durch das ganze Gesundheitswesen: vom Arzt wird man zu einem Spezialisten überwiesen, dann in eine Klinik und schliesslich ist man wieder zu Hause. Da ist es von Vorteil, wenn man sich in einem koordinierten System bewegt, in dem sich die Akteure miteinander austauschen.

Und drittens?

Alfred Angerer: Drittens nutzen Ärzte digitale Hilfsmittel wie künstliche Intelligenz bei Diagnosen. Aber vor allem erleichtert ihnen die Digitalisierung die administrativen Aufgaben. Dank der Digitalisierung können sie Zeit sparen bei Abrechnungen und Dokumentationen.

Wenn die Digitalisierung einen solchen Mehrwert bringt, warum kommt sie dann in der Schweiz nicht voran?

Alfred Angerer: Für Veränderung braucht es einen Grund. Das kann positiver Druck sein. Also in unserem Fall wäre das der Wunsch, nach einem – ich nenne es mal einem schönen, hochwertigen Gesundheitswesen. Aber es kann auch negativer Druck sein. In diesem Fall wären das Budgetkürzungen, die zu einem Umdenken bewegen würden. Aber dieser Druck fehlt in der Schweiz aus verschiedenen Gründen.

Verstehe ich Sie richtig: Sie sagen, dass wir noch zu wenig Kostendruck haben? Die Kosten steigen doch unaufhaltsam.

Alfred Angerer: Ja, die Kosten steigen. Dennoch ist es eine These, dass der Kostendruck noch zu wenig gross ist. Schauen Sie in unsere Nachbarländer. Da ist der Druck ein ganz anderer, so dass Patienten eventuell nicht die adäquate Therapie zukommen kann. In einer solchen Situation sind wir noch lange nicht.

Was sind denn neben dem Druck die Voraussetzungen, damit das Gesundheitswesen digitaler wird?

Alfred Angerer: Ich spreche gerne mit den drei Wörtern «können», «wollen» und «dürfen». Das «Können» ist in der Schweiz kein Problem. Wir haben die technologischen Voraussetzungen, dass wir digitalisieren können. Das «Dürfen» stellt eigentlich auch kein Problem dar. Wenn, dann ist es Problem des Anreizes. Die Digitalisierung verlangt zuerst nach Investition und Aufwand, bevor sie Früchte trägt. Und damit sind wir beim Wort «Wollen». Dort harzt es.

Wir wollen nicht?

Alfred Angerer: Medizinischen Leistungserbringer sehen in der Digitalisierung in erster Linie den Aufwand und die Investitionen. Mit der Digitalisierung verdient man zwar kein Geld, man kann aber langfristig Zeit und Geld sparen, sprich effizienter werden. Was am Ende auch sparen bedeutet. Aber nur indirekt. Des Weiteren wissen viele Bürgerinnen und Bürger nicht, was ein digitalisiertes Gesundheitswesen bedeutet. Von daher üben sie keinen Druck auf das politische System aus.

Braucht es diesen Druck. Die Politik tut doch was. Stichwort: Elektronisches Patientendossier.

Alfred Angerer: Natürlich, die Politik macht nicht nichts. Aber beim Fall EPD würde ich mir wünschen, dass weniger diskutiert, dafür aber schneller entschieden wird. Es geht sehr langsam voran, was natürlich auch dem föderalistischen System geschuldet ist. Das ist hochkomplex. Doch es braucht nicht 26 Elektronische Patientendossiers und 26 kantonale Gesetze. Da wünsche ich mir eine zentralere Impulsgebung und Steuerung.

Nun spricht alle Welt vom Digitalisierungsschub während der Corona-Pandemie. Sprechen Sie dem Gesundheitswesen diesen Fortschritt ab?

Alfred Angerer: Im Gegenteil. Vor Corona hätte kein Mensch gedacht, dass eine Physiotherapie via Videokonferenz stattfinden kann. Unmögliches war auf einmal möglich. Die Telemedizin hat einen Aufwind erlebt. Sie wurde sieben Mal häufiger genutzt als vor der Pandemie. Die Leute sind auf den Geschmack gekommen.

Wie sieht unser Gesundheitswesen in fünf Jahren aus?

Alfred Angerer: Sie kennen vielleicht das Bonmot: Prognosen sind immer schwierig, besonders, wenn Sie die Zukunft betreffen. Ich habe in meiner letzten Studie mit vielen verschiedenen Fachpersonen gesprochen, aus dem Bereich Medizin, Pharma, Apotheken und Fachverbänden. Einige Beispiele aus den Prognosen: Die allermeisten sind sich einig darin, dass die eMedikation sich durchsetzen wird. Man wird mit intelligenten Tools bei der Verschreibung von Medikamenten unterstützt. Bei anderen Aspekten gehen die Meinungen jedoch stark auseinander, inwiefern chronisch kranke Menschen zu Hause behandelt werden können, dank Sensoren, die Daten an die behandelnden Ärzte schicken. Am Ende geht es schliesslich darum, dass die richtigen Daten zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind.


Zur Person

Alfred Angerer ist Professor für Gesundheitsökonomie an der ZHAW, leitet dort die Fachstelle Management im Gesundheitswesen und ist Co-Direktor des Digital Health Labs. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist Digital Health.





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