Leiter Enterprise Customers zur digitalen Transformation

«Gerade mal zwei Meter zurückgelegt»

Urs Lehner, Leiter des Geschäftskundensegments bei Swisscom, fordert von Politik, Wirtschaft und Unternehmen ein beherztes Vorantreiben der digitalen Transformation. Für ihn ist klar: Gut genug zu sein, reicht nicht mehr aus, um sich von der Konkurrenz abzusetzen.

Urs Lehner, mit Jahrgang 1968 sind Sie ganz sicher nicht das, was man einen Digital Native nennt. Wenn man Ihren Werdegang anschaut, sind Sie aber auch kein klassischer Digital Immigrant. Als was sehen Sie sich selbst in Zeiten der digitalen Transformation?

Ich bin ein «digital Interessierter» – und das seit je. Ich habe mich ganz bewusst für das Studium der Wirtschaftsinformatik entschieden. Damals haben wir noch mit Floppy-Disketten gearbeitet und mussten minutenlang warten, bis endlichein paar grüne Punkte auf dem Bildschirm erschienen. Unvorstellbar heutzutage. Trotzdem war ich schon damals der felsenfesten Überzeugung, dass die Informationstechnologie wegweisend sein wird.

Urs Lehner erläutert im Gespräch mit Manuela Staub an der Swisscom Dialog Arena vom 9. November in Luzern die Herausforderungen der Digitalisierung für Schweizer Unternehmen. Video Gesamtlänge 01:48 Min.

Ihr erster Brotjob?

Bei der Zürcher Kantonalbank, im zentralen Datenmanagement. Da wurden meine beruflichen Weichen für Business-to-Business, also B2B, gestellt. Die Technologie war und ist für mich stets Mittel zum Zweck. Ein richtiges Kribbeln kommt in mir nicht bei Gadgets auf, sondern dann, wenn ich dank den technischen Möglichkeiten die Probleme anderer lösen kann. Der Kunde und seine Bedürfnisse stehen für mich im Zentrum, das ist das Reizvolle an meiner Arbeit.

Inzwischen sind 25 Jahre vergangen. Seit diesem Sommer sind Sie Leiter Swisscom Enterprise Customers und Mitglied der Konzernleitung von Swisscom. Andere Zeit, andere Funktion – auch andere Ziele?

Die Informations- und Kommunikationstechnik hat einen unglaublichen Wandel erfahren. Was in den 1990er Jahren Grossrechner übernommen haben, erledigen wir mittlerweile mit dem Smartphone. Den Anwendungsmöglichkeiten sind kaum Grenzen gesetzt. Trotzdem setze ich mich auch heute noch wieder und wieder mit der gleichen Frage auseinander.

«Die Digitalisierung verändert fundamental die Art und Weise, wie zwischen Produzent und Kunde kommuniziert und agiert wird.»

Die da lautet?

Ganz einfach: Wie können wir als Anbieter unseren Kunden Nutzen stiften, Nutzen im Sinne von betriebswirtschaftlich messbaren Verbesserungen in den Prozessen von Produktionen und Unternehmen?

Geht das ein bisschen genauer?

Schauen Sie, es reicht schlichtweg nicht mehr aus, als Unternehmen auf einem Niveau anzutreten oder etwas herstellen zu wollen, das gerade einmal «good enough» ist. Die Firmen müssen sich mit ihren Produkten, ihren Angeboten, ja ihrer gesamten Philosophie essenziell von der Konkurrenz abheben. Nur so bleiben sie für den Endnutzer relevant. Die Digitalisierung verändert fundamental die Art und Weise, wie zwischen Produzent und Kunde kommuniziert und agiert wird.

Und gerade diese Veränderung schürt Ängste. Laut Studien verschliesst sich über die Hälfte der Schweizer KMU dem digitalen Wandel.

Wir beobachten, dass es von Branche zu Branche riesige Unterschiede gibt, was die digitale Affinität und den Grad der Umsetzung von Digitalisierung anbelangt. Ein grosser Finanzdienstleister hat aus nachvollziehbaren Gründen ausgeprägtere Bedürfnisse als eine kleine Baufirma. Was die Ängste angeht: Die sind bestimmt nicht mit der Grösse eines Unternehmens gekoppelt, sondern damit, wie aktiv sich die Geschäftsleitung mit dem Thema digitale Transformation auseinandersetzt.

«Digitalisierung ist Chefsache» – Ihre Branche wiederholt diesen Spruch seit Jahren gebetsmühlenartig.

Weil er ganz einfach zutrifft. Ein Führungsteam muss sich täglich die Frage stellen, welche Rolle das eigene Unternehmen in der Erlebniswelt des Kunden spielen will und kann. Denn darin bewegen wir uns heute: in einer Erlebniswelt – und nicht wie vielleicht noch vor fünfzehn Jahren in einer Welt der Produkte.

Das bedeutet?

Das bedeutet, dass man seinen Kunden und dessen Bedürfnisse sehr gut kennen muss. Einen Kunden notabene, dessen Aufmerksamkeitsspanne stetig geringer wird. Die Digitalisierung liefert hierfür die passenden Instrumente und Prozesse. Wer nicht konsequent das Neue sucht und aus der Sicht des Kunden denkt, der handelt in der heutigen Zeit fahrlässig. Wenn solche Überlegungen und Entscheide also nicht Chefsache sind, dann weiss ich auch nicht weiter.

Auch hier sollte man nicht alles über einen Leisten schlagen, oder?

Natürlich nicht. Firmen, die internationale Ambitionen hegen, kommen gar nicht umhin, gewisse Prozesse zu digitalisieren. Sie stellen Spezialisten ein, verfügen über das entsprechende Budget und nehmen sich der Sache aktiv an. Ein lokal verankertes Kleinstunternehmen hat diese Möglichkeiten nicht.

Und verweigert sich deshalb aktiv der Digitalisierung.

Nicht unbedingt. Die Digitalisierung bietet auch diesen Kleinstunternehmen Zugang zu Cloud-basierten Services, die deren digitale Transformation unterstützen. Was sich immer wieder zeigt: Ein zentraler Treiber dafür, ob ein KMU in den digitalen Wandel investiert, ist der Wettbewerbsdruck. Oder dann vielleicht eine anstehende Geschäftsübergabe. Dahingehend gibt es ein schönes Beispiel. Beim Segment der über 60-jährigen Ärzte in unserem Land ist die Affinität zur Digitalisierung weit höher als bei den etwas jüngeren Kollegen. Ganz einfach deshalb, weil die älteren Mediziner sich Gedanken machen, wie sie ihre Praxis zu einem möglichst guten Preis an einen Nachfolger übergeben können. Also investieren sie aus dieser Motivation heraus stärker in die Digitalisierung und übertragen beispielsweise die Unterlagen mit ihrer kryptischen Handschrift in eine digitale Patientenakte.

«Die digitale Transformation ist sowohl Evolution als auch Revolution.»

Das ist nicht unbedingt das, was man gemeinhin unter digitaler Revolution versteht.

Die digitale Transformation ist sowohl Evolution als auch Revolution. Ein laufender Prozess, der in vielen Unternehmen zum Beispiel mit dem Aufsetzen der ersten eigenen Firmen-Website begonnen hat. Damals war die Skepsis ja auch sehr gross – und heute will kaum mehr jemand auf seinen Internetauftritt verzichten.

Sicherlich, aber wir bewegen uns in neuen Dimensionen – Stichwort Big Data, Stichwort Sicherheit.

Ein ganz wichtiger Punkt. Gerade als kleines oder mittleres Unternehmen sollte man sich gut überlegen, welches Mass an Datenintegrität man selbst sicherstellt und was man aus der Hand gibt beziehungsweise in eine Cloud legt. Und weil diese Betriebe als KMU oft nicht abschliessend über die Ressourcen und das Wissen verfügen, um dahingehend solide Entscheide zu fällen, gibt es eigentlich nur eines: zu jemandem gehen, der genau da Kernkompetenzen hat.

Sie betreiben Eigenwerbung!

Ich nenne ja keine Namen. In der Praxis fällt mir aber etwas ganz speziell auf: Der Entscheid, diesen oder jenen Cloud-Service zu berücksichtigen, wird in den Unternehmen häufig allein aufgrund des Preises gefällt und selten mit Blick auf die Gesamtintegration. Das ist falsch. Ich rate dazu, die Produktivität des Einzelnen mit dem Angebot abzuwägen. Denn was nützt Firmen eine günstigere Investition, wenn diese letztlich die Abläufe und Prozesse verkompliziert? Oder noch schlimmer: wenn bei einer Panne, die alles lahmlegt, niemand greifbar ist, der weiterhelfen kann oder will?

Gibt es eigentlich «den» klassischen Schlüsselmoment für die Entscheidung eines Unternehmens, die eigene digitale Transformation in die Hände zu nehmen?

Wie erwähnt, spielt hier häufig der Wettbewerbsdruck mit. Oftmals kommt die Disruption, bei der das bestehende Geschäftsmodell durch eine Innovation abgelöst oder gar zerschlagen wird, gar nicht aus der eigenen Branche, sondern aus einer ganz anderen Ecke. Der Herausforderer ist plötzlich nicht mehr der klassische Konkurrent, der dasselbe tut – in diesem Fall der Hotelier, der Detailhändler oder der Taxihalter –, sondern jemand, der technologiegetrieben eine Plattform baut, um dasselbe Geschäftsmodell voll digital und skalierbar anzubieten.

Uber hat keine eigenen Taxis, Airbnb keine eigenen Hotels, sie brauchen also kaum Mitarbeitende. Der digitale Wandel killt Jobs, wollen Sie das verneinen?

Keiner der grossen Protagonisten in der IT-Welt wird Ihnen heute garantieren können, dass wir dank der Digitalisierung in fünf Jahren Vollbeschäftigung haben werden. Ich persönlich bin aber davon überzeugt, dass wir in Zukunft nicht weniger Jobs haben werden – lediglich andere. Trotzdem müssen wir uns fragen, was all jene Menschen machen werden, deren Arbeit in den nächsten Jahren durch die Automatisierung wegfällt.

Also stellen wir uns die Frage.

Der Dialog muss dringend intensiviert werden. Ich würde mich alles andere als politisch linksstehend bezeichnen. Aber die Initiative zum bedingungslosen Grundeinkommen hat diesbezüglich bestimmt einen interessanten Ansatz verfolgt. Wir brauchen in der Schweiz einen neuen Sozialkontrakt, um die Prosperität des Landes, den Wirtschaftsstandort und vor allem den sozialen Frieden langfristig zu sichern. Hier tragen neben den Bürgern die Politik, die Wirtschaft und ganz besonders wir von der ICT-Industrie eine wichtige Verantwortung.

«Die Digitalisierung ermöglicht es, wieder mehr in der Schweiz zu produzieren.»

Inwiefern profitiert Ihrer Ansicht nach der Wirtschaftsstandort Schweiz als Ganzes vom digitalen Wandel?

Vereinfacht gesagt: Die Digitalisierung bringt der Schweizer Wirtschaft die Chance, wieder vermehrt im eigenen Land zu produzieren. Denken Sie zum Beispiel an die Möglichkeiten, welche uns die 3-D-Drucker bieten. Es ist möglich, hierzulande eine Produktionsstruktur zu schaffen, die qualitativ extrem hochstehend und gleichzeitig wenig personalintensiv ist. Wir haben global agierende Kunden im Portfolio, denen wir in den letzten Jahren aufzeigen konnten, dass sie dank der Digitalisierung in der Schweiz effektiver produzieren als im Ausland. Mit dem Resultat, dass diese ganze Workloads aus Asien abgezogen und wieder in heimische Gefilde zurückgeholt haben. Gleichzeitig gibt es Weltkonzerne wie Google, die in der Schweiz dank der Digitalisierung Tausende von Arbeitsplätzen schaffen.

Die mit ausländischen Arbeitskräften besetzt werden.

Digitalisierung ist eine globale Angelegenheit, natürlich. Fakt ist jedoch: Der Schweiz fehlen derzeit rund 20 000 digitale Cracks. Das bedeutet zum einen, dass wir im Land selber junge Menschen für unsere Branche begeistern und ausbilden müssen, zum anderen aber auch, dass Fachleute im Ausland rekrutiert werden. Wir tun als Wirtschaftsstandort gut daran, der Welt gegenüber wieder vermehrt Offenheit zu signalisieren, vor allem auch im politischen Dialog, um die operative Umsetzung der Digitalisierung beherzt voranzutreiben. Die Schweiz hat den Start diesbezüglich leider ein wenig verschlafen. Vergleichen wir den digitalen Wandel mit einem 100-Meter-Lauf, so haben wir bis dato gerade einmal zwei Meter zurückgelegt.

Sie beschäftigen sich tagtäglich mit der digitalen Transformation. Gibt es für Urs Lehner eigentlich noch ein Leben abseits der Virtualität, also in der Realität? )

Und ob, ich verfüge zum Glück über die Fähigkeit, sehr schnell von Arbeitsalltag auf Freizeit umzuschalten. Komme ich in eine Schräglage von 30 Prozent, schlafe ich ein. Ich halte meine Kollegen und Mitarbeitenden stets dazu an, auch einmal loszulassen vom Job und abzuschalten. Da muss ich ja mit gutem Beispiel vorangehen. Und sollte ich im Privatleben einmal allzu sehr ins Berufliche abschweifen, dann sind da immer noch meine Frau und unser Hund, die mich sehr schnell zurückholen. Die sind sehr real und nicht digital, glauben Sie mir!

Das Interview ist Teil einer Verlagsbeilage der NZZ.

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