«Firmen sollten jetzt schon mit dem Metaverse experimentieren»
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«Firmen sollten jetzt schon mit dem Metaverse experimentieren»

Die Industrie steckt Milliarden in die Entwicklung des so genannten Metaverse. Markus Gross, ETH-Professor und Direktor von Disney Research Zürich erklärt, warum auch Schweizer Firmen sich jetzt schon mit dem Internet der Zukunft beschäftigen sollten und was wir vom Metaverse erwarten dürfen. 

Das Metaverse ist im Moment noch ein Schlagwort. Es gibt zahlreiche unterschiedliche Erklärungen, was das eigentlich ist. Was ist Ihre persönliche Definition?

Markus Gross: Das Metaverse ist die nahtlose Verbindung der realen Welt mit allen virtuellen Welten, inklusive jener, die wir heute schon kennen. Die beinhaltet soziale Plattformen wie beispielsweise Meta oder Tiktok, von dreidimensionalen Ansätzen wie «Second Life» oder «Sandbox», aber auch Spielewelten wie «World of Warcraft». Der Hauptunterschied ist, dass wir uns im Metaverse mit unseren Avataren einfach zwischen diesen Welten bewegen können und auf die perfekte Überlagerung der realen Welt mit einer digitalen Realität zurückgreifen können (Digital Twins). All das zusammen wird das dreidimensionale Internet der Zukunft sein.  

Das Metaverse ist also nicht etwas völlig Neues? 

Nein. Viele Entwickler bezeichnen das Metaverse als das Internet 3.0. Es ist intrinsisch dreidimensional und räumlich und nicht mehr zweidimensional.  

Abgesehen von der fernen Zukunft: Wie wird das Metaverse zunächst aussehen?  

Ich glaube, dass es in absehbarer Zukunft erst einmal verschiedene Galaxien geben wird – um beim Bild des Weltraums zu bleiben – die aber nicht übergreifend voneinander aus zugänglich sein werden. Eine Galaxie könnte beispielsweise das Metaverse von Meta oder Epic sein.  

Der dreidimensionale Ansatz ist nichts Neues. «Second Life» war in den Nullerjahren ein Hype, konnte sich aber trotz hoher Investitionen gewisser Firmen nicht durchsetzen. Warum sollte das heute anders sein? 

Heute passen verschiedene Voraussetzungen perfekt. Mit Realzeit-3D-Computergrafik können wir virtuelle Welten in einem völlig anderen Mass an Realismus darstellen. Diese Entwicklung wurde vor allem durch die Spieleindustrie getrieben. Ebenfalls bedeutend sind Innovationen in den Bereichen Sensorik und Optik. Und natürlich die Entwicklungen im Cloud-Computing und in der drahtlosen Hochgeschwindigkeits-Kommunikation mit 5G und 6G. Die absolut zentrale technische Innovation liegt jedoch im Bereich der künstlichen Intelligenz. Jüngste Sprachmodelle, wie ChatGPT, werden intelligente Avatare steuern, die uns im Metaverse assistieren, unterhalten oder auch uns selbst repräsentieren. Das alles erlaubt uns, eine neue Generation von virtuellen Welten zu konstruieren, die absolut nicht mehr vergleichbar sind in Qualität und Komplexität mit ihren Vorgängern wie Second Life. Ferner werden wir auf eine grosse Anzahl von intelligenten Services zurückgreifen können, um unsere Realität mit vielfältiger Information anzureichern und zu personalisieren. 

Technologie ist das eine, aber sind die Anwender*innen auch bereit für den Wandel? 

Ja, die sozioökonomischen Umstände sind die zweite wichtige Voraussetzung. Die Generation Z und jetzt Alpha ist mit dem Internet aufgewachsen. Diese Generation wird neue Technologien viel schneller annehmen und umsetzen. Der digitale Twin der realen Welt in der Cloud wird uns ein grosses Spektrum an sehr praktischen Anwendungen ermöglichen. Sofern denn die Daten konsistent und aktuell sind. 

Eine der Stützen dieses digitalen Twins sind die Anwender*innen, die nicht nur konsumieren, sondern in gleichem Masse auch Content einspeisen und dafür sorgen, dass das digitale Abbild immer auf dem neusten Stand ist. Wie soll die ökonomische Teilhabe des Einzelnen aussehen?  

Avatare sind meiner Meinung nach eines der wichtigen Elemente, die für die Dezentralisierung sprechen, die wir im Metaverse anstreben. Unsere digitale Identität – neben dem Avatar beinhaltet dies noch viele andere Aspekte unseres Lebens – sollte uns gehören. Wenn die Besitzverhältnisse dezentral beispielsweise in einer Blockchain verwaltet werden, können wir diese Identität oder Elemente davon selbst verwalten und verlieren nicht die Hoheit darüber. Damit das Metaverse wirklich funktioniert – also der digitale Twin immer aktuell ist – braucht es die so genannte Schwarmintelligenz. 

Mit welchen Geräten werden wir das tun? 

Ich denke, das werden zum einen Brillen sein, die mit jeder Menge Sensorik versehen sind. Diese werden nicht nur uns selbst erfassen, sondern auch unser direktes Umfeld. Die gewonnenen Daten aktualisieren dann den digitalen Twin der Welt in Echtzeit.  

Ein Alptraum in Sachen Datenschutz und Privatsphäre … 

Ja, dieses Thema wird exponentiell komplexer. Wir werden als Konsument*innen selbst entscheiden müssen, wie viel Privatsphäre wir freigeben und dafür entsprechend einen Gegenwert erhalten. Das kann zu einer interessanten ökonomischen Dynamik führen. 

Wie verhindern wir, dass wir dieselben Fehler wie in den letzten 25 Jahren nochmals wiederholen, einfach mit anderen Technologien und Anbietern? 

Der Übergang vom Personal Computing zum Mobile Computing in den Nullerjahren war – was die Privatsphäre betrifft – disruptiver als der Übergang vom Internet 2D ins Internet 3D. Die Mechanismen zum Schutz unserer Privatsphäre wurden erst sehr spät in die Smartphones eingebaut. Dies wird mit den neuen Technologien nicht mehr der Fall sein – auch wenn das Management der Privatsphäre deutlich komplexer wird. Heute wissen wir, was uns erwartet.  

Das Tragen der von Ihnen angesprochenen Gadgets – beispielsweise Brillen – ist sehr anstrengend. Wie lange wird es noch dauern, bis das kein Thema mehr ist? 

Ich glaube, das wird in den nächsten drei bis fünf Jahren der Fall sein. Aber einige meiner Kollegen betonen, das hätten wir schon vor 20 Jahren gesagt. Heutige Prosumer-Geräte wie die Hololens zeigen, was möglich ist. Aber die Physik setzt uns – noch – Grenzen.  

Markus Gross

Markus Gross, 59, ist seit 1994 Professor für Informatik an der ETH Zürich sowie Gründer und Direktor des Laboratoriums für graphische Datenverarbeitung an der ETH. 2008 wurde Gross zum Gründungsdirektor von Disney Research Zürich (DRZ) ernannt und leitet in seiner Rolle als Chief Scientist die technologische Innovation der Walt Disney Studios. In Zusammenarbeit mit dem Computer Graphics Laboratory (CGL) der ETH Zürich, arbeitet Disney Research Zürich an Methoden der künstlichen Intelligenz und Bildverarbeitung für die Film- und Medienproduktion. Seit 2020 ist Gross Mitglied der Academy of Motion Picture Arts and Sciences, die jedes Jahr die Oscars vergibt. Markus Gross ist Vater zweier erwachsener Kinder. 

Um ohne Verzögerung die nötigen Daten zu übertragen, müsste aber noch einiges an Entwicklung gehen? 

Absolut. Wir brauchen eine schnelle Antwort aus der Cloud. Hier spielen Konzerne wie beispielsweise Swisscom eine wichtige Rolle. Soll ein neuronales Sprachmodell mit einem lebensechten digitalen Avatar gekoppelt werden, so kann dies nicht auf dem Endgerät gerechnet werden. Wir benötigen ausgereifte Systeme, die Cloud-, Edge- und Mobile-Computing intelligent verbinden. Dann wird auch die ultimative Telepräsenz möglich werden, bei der wir durch unsere digitalen Twins visuell repräsentiert werden. 

Aber nur, wenn wir in der Lage sind, die Avatare wirklich realistisch darzustellen? 

Ja, das ist die Voraussetzung. Dann werden wir auch bereit sein, den mangelnden Tragekomfort der Geräte zu akzeptieren. 

Allerdings reagieren Menschen sehr empfindlich und ablehnend auf Darstellungen von menschlichen Avataren, die nicht total perfekt sind. Darum setzte man bisher bewusst auf abstrahierte Figuren. Werden wir jemals in der Lage sein, dieses so genannte Uncanny Valley – das unheimliche Tal – zu vermeiden? 

Der Uncanny-Valley-Effekt wurde ausführlich im Rahmen der Robotik studiert. Ich arbeite seit 15 Jahren daran, diesen Effekt zu eliminieren. Heute können wir – im Film! – synthetische Menschen oder menschenähnliche Figuren animieren, die absolut realistisch sind und als solche von den Zuschauenden akzeptiert werden – ohne dieses ungute Gefühl im Bauch. Jetzt muss man diese Technologie «nur noch» so weiterentwickeln, dass sie in Echtzeit darstellbar wird. Daran arbeiten alle grossen Firmen, die im Metaverse tätig sind, auch viele meiner ehemaligen Studenten. 

Was raten Sie Firmen heute konkret? Soll man schon ins Metaverse investieren? 

Man sollte als Firma experimentierfreudig sein. Es lohnt sich, gewisse Kompetenzen aufzubauen. Als Dienstleister kann man sich überlegen, ob man mal eine digitale Präsenz in «Sandbox» aufbaut. Ich kenne eine Anwaltskanzlei, die das getan hat. Bei Consumer-Produkten ist das noch einfacher. Da könnte man mal exemplarisch von zwei, drei der wichtigsten Produkte digitale Twins entwickeln und im Metaverse Präsenz zeigen. Es gibt sogar Firmen, die digitale Produkte – beispielsweise Schuhe – anbieten, die es im echten Leben gar nicht gibt und die ausschliesslich für die Avatare gedacht sind und als NFTs verkauft werden.  

Diese Form der Vermarktung gibt es für Computergames schon länger. 

Absolut. Da sind es die so genannten Skins, die für Echtgeld verkauft werden und zum Teil auch zahlenmässig limitiert sind, um deren Wert zu steigern. Die Spiele- und Grafikchipindustrie ist ohnehin ein wichtiger Treiber vieler Entwicklungen auf diesem Gebiet. So gibt es das Omniverse von Nvidia, das für die herstellende Industrie sehr interessant ist. Auf dieser B2B-Plattform können z.B. alle Stufen eines Produktionsprozesses komplett virtuell modelliert werden. Das eröffnet völlig neue Möglichkeiten bei der Planung von Fabriken, der Optimierung von Prozessen oder auch des Umgangs mit Prototypen. Vieles lässt sich perfekt in 3D simulieren, bevor es gebaut wird. 

Experimentieren, Fehler machen, auf dem Laufenden bleiben, Kompetenzen entwickeln: Tipps, die Firmen während der ganzen Zeit der Digitalisierung in den letzten 25 Jahren beherzigen sollten.  

Mehr denn je. Dies gehört zu den grundsätzlichen erfolgreichen Verhaltensmustern in einer disruptiven Zeit. Ich kann niemanden guten Gewissens raten, jetzt mit vollem Risiko ins Metaverse zu investieren. Aber man sollte diese Entwicklung in Kombination mit der allgemeinen KI auf dem Radar haben, damit man rechtzeitig mit dabei sein kann. Also proaktiv statt reaktiv. 

Wo stehen wir in 10 Jahren? 

Es wird viele Dienstleistungen geben im Bereich Augmented Reality, die unser Leben bereichern werden. Die Entwicklung und die Dienstleistungen werden aber weniger disruptiv sein, sondern eher kontinuierlich voranschreiten. Eine viel grössere Disruption ist von generativen KI-Methoden zu erwarten, die uns womöglich bald komplexe, kreative Denkarbeit abnehmen und unsere kognitiven Leitungen verstärken werden. Ich schaue positiv in die Zukunft. 

Swisscom Business Days: die Playlist

Das Interview mit Markus Gross wurde im Rahmen der Swisscom Business Days 2022 geführt. Aufzeichnungen zu weiteren spannenden Themen finden Sie auf unserem YouTube-Kanal. Am besten abonnieren Sie ihn gleich, um kein Video zu verpassen. 

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